Verteidigung der psychoanalytischen Forschungsmethode
Hier soll im Folgenden gezeigt werden, dass es entgegen Grünbaums Annahme doch eine Reihe guter Gründe gibt, anzunehmen, dass die analytische Situation in einem bestimmten Ausmaß das Überprüfen von analytischen Deutungen ermöglicht. Das bedeutet nicht, dass wir das auch immer oder auch nur meistens tun, aber es bedeutet, dass es unter bestimmten, näher zu bestimmenden Voraussetzungen möglich ist. Das Verständnis des einzelnen Falles entfaltet sich bekanntlich nicht ausschließlich aus dem klinischen Material eben dieses Falles, sondern hängt immer auch mit einem psychoanalytischen Rahmenverständnis zusammen, das in den verschiedenen theoretischen Modellen der Psychoanalyse konzentriert ist. Es setzt sich zunehmend die Auffassung durch, dass diese Rahmenmodelle nicht ausschließlich aus dem analytischen Material von Einzelanalysen entwickelbar oder dort ausreichend überprüfbar sind. Auf diesen Punkt wird auch unter dem Punkt „Extraklinische Forschung“ eingegangen.
Unten folgt eine kurze Zusammenfassung, wie man den Erkenntnisgewinn in der analytischen Situation konzeptualisieren kann. Daraus ist dann abzuleiten, welche Voraussetzungen für eine wissenschaftlich plausible Einzelfallstudie gegeben sein müssen. Wir lehnen uns hier an Vorstellungen an, die von Ulrich Moser, Marianne Leuzinger-Bohleber (2007) und Carlo Strenger (1991) entwickelt worden sind. Klinische Forschung ist demzufolge abhängig von einer forschenden Grundhaltung des Analytikers, der sich auf einen zirkulären, durch folgende Momente bestimmten Prozess einlässt:
i. Haltung und Kompetenz des Analytikers
Das psychoanalytische Setting ermöglicht einen spezifischen Erkenntnisprozess, der auf persönliche Einmaligkeit und unbewusste Tiefendimension gerichtet ist. Die gleichschwebende Aufmerksamkeit des Analytikers ist Ausdruck seines geschulten Sensoriums, mit dem er versucht unbewusste Botschaften des Analysanden aber auch aus seinem eigenen Inneren wahrzunehmen. Der Analytiker wendet dabei keine außernatürlichen Kräfte oder Fähigkeiten an, seine Kompetenzen bestehen lediglich in den durch Training verfeinerten allgemein-menschlichen Fähigkeiten zur Einfühlung in andere und zur Schlussfolgerung von äußeren Beobachtungen auf innere Zustände. Die dabei gemachten Wahrnehmungen bzw. Beobachtungen dienen zunächst der Hypothesengenerierung in Bezug auf die aktualisierte unbewusste Psychodynamik des Analysanden. Idealerweise verbindet sich die gleichschwebende Aufmerksamkeit mit der erwähnten forschenden Grundhaltung, was bedeutet, dass der Analytiker daran interessiert ist, durch das zwischenmenschlich-einmalige hindurch auch allgemeinere Gestalten und Gesetze des psychischen Funktionieren zu erkennen.
ii. Das Funktion des analytischen Paars
Im analytischen Prozess kommt es zu gemeinsamen Beobachtungen des analytischen Paares, wobei auf Seiten des Analytikers das durch Ausbildung verfeinerte Sensorium für Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene zum Einsatz kommt, auf Seiten des Analysanden seine Bereitschaft zur freien Assoziation. Beobachtung führt zunächst einmal nicht sofort zum Verstehen, im Gegenteil. Die Toleranz gegenüber dem Nicht-Verstehen und dem Nicht-Wissen ist ein wesentliches Moment im analytischen Prozess, das sich der Analytiker gemeinsam mit seinem Analysanden durch Überwinden von Widerständen immer wieder neu erwerben muss. Der Analytiker kann sich bezüglich der in ihm aufkeimenden Hypothesen nie sicher sein und braucht den Analysanden, um gemeinsam mit ihm über den Wahrheitsgehalt einer Deutung entscheiden zu können. Lear (1999) bezeichnete die Psychoanalyse aus diesem Grund als das demokratischste aller Therapieverfahren. Der Begriff der Wahrheit bezieht sich hier ausschließlich auf die sogenannte „narrative Wahrheit“, die zunächst nichts über die Korrespondenz mit einer objektiven Wahrheit aussagt.
iii. Konzeptuelle Formen des Verständnisses
Die ersten Hypothesen, die sich im Analytiker und im Analysanden durch sorgfältiges Tasten nach einem Verständnis der unbewussten Prozesse bilden, sind sogenannte private Minitheorien oder einfache Narrative, d.h. erste Symbolisierungsversuche der beobachteten, aber unverstandenen subsymbolischen (affektiven und körperlichen) und teil-symbolischen (bildlichen, para-verbalen) Vorgänge. Diese Minitheorien können in Form von Deutungen umgesetzt und dadurch ein Stück weit einer intersubjektiven Überprüfung unterzogen werden.
Die Minitheorien werden durch nachfolgende Schritte der Abstraktion und Verallgemeinerung zunächst mit sogenannten kondensierten Metaphern und schließlich auch mit ausformulierten Konzepten und formalisierten Theorien in Verbindung gebracht. Dabei wird idealerweise ein wechselseitiger Entwicklungsprozess angestoßen, d.h. dass sich einerseits die Vorstellungen des Analytikers über den Einzelfall verändern, andererseits aber auch sein Verständnis der überindividuellen Metaphern und Konzepte vertieft oder kritisch schärft. Eine solche kreative Verbindung gelingt besser, wenn der Analytiker in einer offenen Forschungshaltung ist, und misslingt, wenn er in einer Gegenübertragungsreaktion festsitzt, was ihn dazu verführen könnte, zu intellektualisierenden Clichés oder pseudo-theoretischen Sprachhülsen zu greifen.
iv. Theoretischer Rahmen und Hintergrundwissen
Die umfassenderen theoretischen Rahmenvorstellungen des Analytikers werden in der Regel durch klinische Erfahrung nicht in Frage gestellt. Schon unsere ersten Beobachtungen in der klinischen Situation sind von unseren Konzepten und Theorien beeinflusst, und die jeweils weiteren Beobachtungen reflektieren natürlich umso mehr den in Gang gekommenen konzeptuellen Prozess, der oben beschrieben wurde. Bion´s „no memory, no desire“ darf nicht naiv missverstanden werden, wir können uns natürlich nur sehr begrenzt von unseren Einstellungen und Vorurteilen befreien. Es kann auch gar nicht um Theoriefreiheit in der Beobachtung gehen, sondern bestenfalls um differenziertes und variationsreiches Hintergrundwissen, das dem Neuen möglichst viel von seiner Neuheit lassen kann und es nicht vorschnell auf Altbekanntes reduziert. Die Fähigkeit zu dieser Offenheit hängt mit der angestrebten forschenden Grundhaltung zusammen. Dieser entspricht auch die Erkenntnis, dass die theoretischen Rahmenvorstellungen auf einer Abstraktionsebene angesiedelt sind, wo sie durch klinische Einzelfälle weder bestätigt noch widerlegt werden können.
v. Der Dialog mit eigenem Unbewussten
Je sicherer sich der Analytiker seiner unbewussten Fähigkeit zur flexiblen und komplexen Rekombination von Ideen und Konzepten ist, umso eher kann er sich auf das „Fremde“ und das „Nicht-Wissen“ einlassen. Die paranoiden Ängste, die das Fremde in uns allen immer aufs Neue auslöst, können letztlich nur durch die Fähigkeit beherrscht werden, das Unverständliche auf möglichst nicht-reduktive, und d.h. möglichst geschmeidige und schattierungsreiche Weise mit Bekanntem in Verbindung zu setzen. Es geht unbewusst dabei auch um Identifizierungen mit guten psychoanalytischen Objekten, vielleicht um einen inneren Dialog mit seinem Lehranalytiker oder früheren Supervisor. Dabei kann es auch zu Identifizierungen mit primitiv-idealisierten psychoanalytischen Vorbildern oder Schulen kommen, was dann zu einem unkritischen Nachahmen anstatt zu der geforderten forschenden Grundhaltung führt. Ein durchlässiger Dialog mit seinem eigenen Unbewussten gehört jedenfalls zu den Schlüsselqualitäten eines guten psychoanalytischen Forschers. Damit hängt auch die Fähigkeit zusammen, die eigenen privaten Theorien in ihrem Entstehungsprozess zu reflektieren und mit der Reflexion der offiziellen Theorien zusammen zu bringen.