Extraklinische Forschung ab den 1970er Jahren
Thomä & Kächele begannen in den 1970er Jahren, die Tonbandprotokolle des sogenannten „deutschen Musterfalles“ der Amalie X. zu analysieren. Amalie X war eine von Thomä analysierte depressive Patientin, deren 517 Sitzungen aufgezeichnet und wörtlich transkribiert wurden (vgl. Kächele et al. 2006).
Im dritten Band der Reihe Psychoanalytische Therapie bieten Thomä und Kächele (2006, S. 121ff.) einen Überblick über die Untersuchungen ihrer Arbeitsgruppe zum Fall Amalie X; unter anderem untersuchte die Arbeitsgruppe die Bedeutung sogenannter „verhaltensrelevanter Mikroereignisse“ wie den Zusammenhang von emotionaler Erfahrung und Übertragung. Andere Studien fokussierten die Veränderungen des Selbstgefühls in Verlauf der Analyse oder die Reaktionen der Patientin auf Unterbrechungen der Analyse als Indikatoren für strukturelle Veränderung.
Neben manualgeleiteter Forschung sind in Ulm auch computergestützte Studien entstanden. Hierbei interessierten zum Beispiel die Schwankungen der verbalen Aktivität der Patientin zwischen eher emotionalen Narrativen und eher abstrahierenden Reflexionen und inwieweit die Muster dieser Schwankungen mit strukturellen Veränderungen und therapeutischen Fortschritten in Verbindung gebracht werden konnten.
Auch von zahlreichen anderen psychoanalytischen Forschern wurden die Transkripte der Amalie X, beforscht, so z.B. von Brigitte Boothe von der Universität Zürich:
Die Amalie-Transkripte wurden dort hauptsächlich unter Zuhilfenahme der von Boothe entwickelten Erzählanalyse JAKOB ausgewertet mit Fokus auf die Untersuchung von Alltags- und Traumerzählungen. JAKOB ist ein qualitatives Untersuchungsinstrument, mit dem Alltagserzählungen systematisch untersucht werden können. JAKOB ist sowohl ein Kodierverfahren als auch ein Auswertungssystem.
Boothe schreibt: „Die methodischen und theoretischen Bezugspunkte der Erzählanalyse JAKOB finden sich neben der Psychoanalyse vor allem im Bereich literaturwissenschaftlicher Erzähltheorien sowie soziologischer und linguistischer Ansätze. Untersucht werden Sprachsequenzen, die in sich geschlossen sind, und fast immer eine klar erkennbare Struktur mit Anfang, Mitte und Schluss besitzen. Die Datenbasis ist der schriftlich fixierte Text; nonverbale Gesprächsanteile werden nicht berücksichtigt“ (zit. n. Bernhart & Keller 2010) .
Das Ziel der Analyse besteht in der Erschließung szenischer Arrangements, die in der dynamischen Bauform des Erzählens angelegt sind. Ihre systematische Untersuchung ermöglicht eine wissenschaftlich fundierte psychodynamische Konflikt- und Beziehungsdiagnostik. Die erzählanalytische Auswertung wird unterstützt durch das Computerprogramm AutoJAKOB. Dieses Programm erlaubt es, die vorbereiteten Erzählungen zu erfassen, eine partielle linguistische Morphologie- und Syntaxanalyse durchzuführen und darauf aufbauend die lexikalische Kodierung vorzunehmen. Für die nachfolgende Interpretation stehen vorgefertigte Auswertungsschablonen zur Verfügung, die den Ablauf vereinfachen und standardisieren (Boothe et al., 2002).
Es entstanden an der Universität Zürich dutzende Forschungsarbeiten mit einer Vielzahl qualitativer und quantitativer Fragestellungen. Diese Beispiele dienen hier als Illustration der großen Vielfalt, die heute in der extra-klinischen psychoanalytischen Forschung besteht. Kächele (1992) unterschied folgende Phasen in der psychoanalytischen Psychotherapieforschung:
- Die ergebnisorientierte Forschung (1930-1970)
- Die kombinierten Prozess- und Ergebnisstudien (1969-1980)
- Untersuchungen der Mirkodynamik des Prozessgeschehens (seit 1980)
V.a. in der dritten Periode treten systematische und detaillierte Einzelfallstudien in den Vordergrund zu denen auch die diversen Studien der Transkripte der Amalie X. gehören. Wie vielleicht schon deutlich wurde, ist das inzwischen ein riesiges Gebiet, über das man sich gar nicht so leicht einen Überblick verschaffen kann. Allein die Darstellung der unterschiedlichen Instrumente und Methoden, die in der psychoanalytischen Prozessforschung entwickelt und verwendet werden, füllen zahlreiche Bände, von denen nur wenige hier erwähnt werden.
- Bernhart, N. & Keller, V. (2010): Stand der Forschung an der Universität Zürich zum deutschen Musterfall “Amalie X”. Berichte aus der Abteilung klinische Psychologie, Psychotherapie und Psychoanalyse Nr. 61. Psychologisches Institut der Universität Zürich. November 2010. Zu finden im Internet unter: www.jakob.uzh.ch/docs .
- Boothe, B., Grimmer, B., Luder, M., Luif, V., Neukom, M. & Spiegel, U. (2002): Manual der Erzählanalyse JAKOB. Version 10/02. Im Internet zugänglich über http://www.jakob.uzh.ch/.
- Kächele, H. (1992): Psychoanalytische Therapieforschung. Psyche – Z Psychoanal 46, 259-285.
- Kächele, H., Albani, C., Buchheim, A., Grünzig, H.-J., Hölzer, M., Hohage, R., Jimenez, J.P., Leuzinger-Bohleber, M., Mergenthaler, E., Neudert-Dreher, L., Pokorny, D., Thomä, H. (2006): Psychoanalytische Einzelfallforschung: Ein deutscher Musterfall Amalie X. Psyche – Z Psychoanal 60, 387-425.
- Leuzinger-Bohleber, M. (2007): Forschende Grundhaltung als abgewehrter „common ground“ von psychoanalytischen Praktikern und Forschern? Psyche – Z Psychoanal 61, 966-994.
- Lear, J. (1995): The shrink is in. In: Leuzinger-Bohleber, M. & U. Stuhr (Hg.: Psychoanalysen im Rückblick. Methoden und Ergebnisse der neueren Katamneseforschung. Gießen: Psychosozial.
- Thomä, H. & Kächele, H. (2006): Lehrbuch der psychoanalytischen Therapie. Bd. 3 Forschung. Berlin, New York: Springer.