Extraklinische Forschung
Ulrich Mosers (1991) Unterscheidung von Online- und Offline-Forschung hat zu einer Entspannung in der oft polemischen Diskussion zwischen hermenteutisch und naturalistisch orientierten Psychoanalytiker_innen beigetragen. Online-Forschung meint dabei die Forschung des Analytikers hinter der Couch, wenn er sozusagen „online“ mit dem Patienten und dessen Unbewussten verbunden ist. Offline-Forschung meint die Forschung nach der Analysestunde, wo Fälle verglichen, Literatur recherchiert und auf das klinische Material vielleicht systematischere Methoden und formalisiertere Instrumente angewendet werden, als es hinter der Couch möglich wäre.
Mosers Begriffe der Online- und der Offline-Forschung zielen darauf, dass hier zwei gleichwertige, wenn auch sehr verschiedenen Forschungsmethodologien in der Psychoanalyse anerkannt werden. Sie sollten weniger unter dem Aspekt des gegenseitigen Ausschlusses als dem der Ergänzung diskutiert werden. Beide sollten – ihm zufolge – durch eine forschende Grundhaltung charakterisiert und an Verdacht und Irrtum orientiert sein.
Schon Freud hat nicht nur Einzelfallstudien veröffentlicht, um bestimmte theoretische Konzepte zu begründen und zu illustrieren. In seinem Aufsatz „Ein Kind wird geschlagen“ (Freud 1919e) beruft er sich explizit auf eine ganze Gruppe von sechs Patienten und Patientinnen, die alle das gleiche Symptom zeigten, eben besagte Schlagephantasie. Zwei waren Männer und vier waren Frauen. Freud findet systematische Unterschiede zwischen den Geschlechtern in der Art, wie die Phantasie unbewusst aufgebaut ist. Freuds Vorgehensweise bleibt natürlich im Rahmen der Erfahrung, die ein einzelner Analytiker in seiner Praxis sammeln kann.
Es zwingt uns allerdings nichts, in diesem Rahmen zu bleiben. Als eines der ersten Beispiele für eine Datensammlung, die die Möglichkeiten einer Privatpraxis weit überstieg, sei die Entwicklung des Hampstead Index erwähnt. Das war seit den 1950er Jahren der Versuch, in der von Anna Freud geprägten Hampstead Clinic, das immer mehr anwachsende Material, das die dort arbeitenden Kinderanalytiker dokumentierten, systematisch zu erfassen. So wurden zahlreiche Kategorien und Begriffe entwickelt, von Abwehrmechanismen über Objektbeziehungen bis zu Überich-Funktionen, mit deren Hilfe das Material geordnet und dadurch auch miteinander verglichen werden konnte. Anfänglich waren es 50 Kinderanalysen, die dabei verarbeitet wurden, später stieg die Zahl weiter an. Sandler beschreibt, wie die Erstellung der Kategorien und Schlüsselbegriffe zu immer neuen Diskussionen und – in der Folge davon – zu besseren Definitionen führte. Die Entwicklung des Hampstead Index kann in gewisser Weise als der Beginn einer systematischen Konzeptforschung in der Psychoanalyse bezeichnet werden. In dem Buch „Die Hampstead-Methode“ haben Bolland & Sandler (1982) die Psychoanalyse eines zwei-jährigen Kindes mithilfe dieser kategorialen Begriffe beschrieben und damit gezeigt, wieweit eine Psychoanalyse auch in empirisch begründeten, über-individuellen begriffen beschrieben werden kann.
Extraklinische Forschung ab den 1970er Jahren
- Moser, U. (1991): On-Line und Off-Line, Praxis und Forschung, eine Bilanz. Psyche - Z Psychoanal 45, 315-334.
- Sandler, J. & Bolland, J. (1982): Die Hampstead-Methode. München: Kindler Verlag.
- Strenger, C. (1991): Between Hermeneutics and Science. An Essay on the Epistemology of Psychoanalysis. Madison, Connecticut: International Universities Press.