Angewandte Psychoanalyse
Obwohl die Psychoanalyse von Sigmund Freud als psychotherapeutische Praxis für die Behandlung von Neurosen begründet worden ist, hat sie sich sehr bald zu einer allgemeinen Psychologie des Unbewussten bzw. zu einer Lehre von den unbewussten Motiven menschlichen Handelns entwickelt. Ausschlaggebend dafür war die Erkenntnis, dass im menschlichen Seelenleben die Grenzen zwischen dem Normalen und dem Pathologischen fließend sind und weniger durch qualitative als durch quantitative Merkmale bestimmt werden können. Aus diesem Grund kann man auch von Normalvorbildern psychischer Störungen sprechen und etwa den Traum der Halluzination, die Trauer der Melancholie und die Fehlleistungen den neurotischen Symptomen gegenüberstellen. Des Weiteren ist festzuhalten, dass die menschlichen Kulturleistungen insgesamt (allgemeine Sitten und Gebräuche, Mythen und Märchen, Kunst, Wissenschaft usw.) auf seelische Bereiche verweisen, in welchen auch die rätselhaften Symptome und Verhaltensweisen psychisch gestörter Personen ihre Wurzeln haben.
Deshalb hat Freud immer wieder auf die verschiedensten psychoanalytischen Erkenntnisbereiche hingewiesen, wobei er der Arbeit kreativer und künstlerisch begabter Menschen einen besonderen Platz einräumt:
“Wertvolle Bundesgenossen sind aber die Dichter, und ihr Zeugnis ist hoch anzuschlagen, denn sie pflegen eine Menge von Dingen zwischen Himmel und Erde zu wissen, von denen sich unsere Schulweisheit noch nichts träumen lässt. In der Seelenkunde gar sind sie uns Alltagsmenschen weit voraus, weil sie da aus Quellen schöpfen, welche wir noch nicht für die Wissenschaft erschlossen haben.”
Daraus ergibt sich neben der klinischen Theorie und Praxis ein kulturtheoretisches Fundament der Psychoanalyse, wofür auch Freud einige wichtige Vorarbeiten vor allem aus den Gebieten der Literatur und der bildenden Kunst geliefert hat. Mittlerweile hat sich diese Anwendung zu einem bedeutsamen Erkenntnis- und Erfahrungsfeld im Rahmen eines interdisziplinären Austausches mit diversen Fachrichtungen der Geistes- und Humanwissenschaften und der Philosophie erweitert, so dass psychoanalytisches Denken und Handeln in wissenschaftliche Beschäftigungen mit Bildender Kunst, Literatur, Musik, Architektur, Film und Medien, Museumspädagogik u.a.m. Eingang gefunden hat. Die diesbezüglichen Publikationen sind heutzutage kaum noch überschaubar.
Einen dritten großen Anwendungsbereich stellt die psychoanalytische Gesellschaftskritikdar, die sich aus der entwicklungsgeschichtlich bedingten engen Verknüpfung von Individuum und Gesellschaft ergibt. Als relativ unfertiges Wesen in die Welt geschickt muss sich der Mensch erst an seinen Nebenmenschen aufrichten und im Rahmen eines lang dauernden Sozialisationsprozesses die Werthaltungen, Normen, Gebote und Verbote seiner für ihn relevanten gesellschaftlichen Gruppen aneignen und verinnerlichen, um zu einer Identität zu gelangen. Zu einem großen Teil unbewusst bestimmen diese Normierungsfaktoren die Ausformungen und Rollenbilder der sozialen Geschlechtlichkeit (Gender), sie regeln den Zugang zum Gesetz und zu den ethischen Grundhaltungen, greifen in die Definitionsprozesse für Gesundheit und Krankheit ein, geben Richtlinien zu metaphysischen Fragen vor (Religion) und bieten Merkmale für die Zugehörigkeit zu einem bestimmten ethnischen Kollektiv an. Forschungs- und Erkenntnisarbeit in dieser Hinsicht führen zu einem engen Kontakt zu gesellschaftstheoretisch relevanten Disziplinen wie Soziologie, Ethnologie, Politologie, Geschichtswissenschaften, Religionswissenschaften, Jurisprudenz u.a.m.
Hervorzuheben ist, dass die drei hier kurz skizzierten Anwendungsbereiche der Psychoanalyse in einem Interdependenzverhältnis zueinander stehen und daher nicht isoliert nebeneinander gestellt werden können. Neben den biologisch-anthropologischen Konstanten und Varianten stellen sie in ihrer Einbettung in Medizinpsychologie und Medizinsoziologie die lebensgeschichtlichen und umweltspezifischen Determinanten für allgemeine und individuelle Beziehungen zu Gesundheit und Krankheit auch außerhalb des psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachbereiches dar.
Für medizinisch Tätige ist in diesem Zusammenhang auf die aktuelle Bedeutung von Fragen zur Gender-Spezifität von krankhaften Störungen hinzuweisen. Dabei handelt es sich aber nicht um spezifische Erkrankungen von Frauen einerseits und Männern andererseits in Abhängigkeit vom jeweiligen biologischen Geschlecht, sondern um den Einfluss der sozialen Geschlechtlichkeit auf epidemiologische, diagnostische, behandlungsrelevante und verlaufsspezifische Merkmale.
Denn dem mit wenigen pathologischen Ausnahmen stabilen und ausgeprägten biologischen Geschlecht steht das stets Veränderungen unterworfene und wandelbare psychosoziale Geschlecht im Sinn des Gendergeschlechts gegenüber. Die Feststellung, eine Frau oder ein Mann zu sein, muss daher stets um die Frage erweitert werden, was es in einem gesellschaftlichen oder individuellen Diskurs bedeutet, eine Frau oder ein Mann zu sein. Die soziale Rolle, die mit der Geschlechtsidentität immer zu verbinden ist, ist einerseits von den gerade herrschenden allgemeinen Normensystemen, andererseits von familiären Traditionen, Erwartungshaltungen der Eltern, vorhandenen, fehlenden oder verunmöglichten Identifikationsfiguren und persönlichem Schicksal in sexuell konnotierten zwischenmenschlichen Begegnungen bestimmt.
Die Soziologie der Geschlechter kann im Zusammenspiel historischer, kultureller, religiöser und ökonomischer Faktoren und in deren mannigfaltigen Interaktionen mit den Familieninstitutionen ein über einen bestimmten Zeit- und Kulturraum vorherrschendes Muster von geschlechtstypischen Verhaltens- und Einstellungsweisen ausmachen, das durch individuelle Varianten und Gegenpositionen immer wieder konterkariert wird.